Wenn morgens die DHL-Frau zweimal klingelt – ich schon gestiefelt und gespornt im Hausflur stehe – und sie mir eine Büchersendung aus Übersee in die Hand drückt, fällt es mir ungeheuer schwer, mich in den Sattel zu schwingen und den Ritt auf dem Drahtesel durch den Schnee ins Atelier zu wagen. Das Fleisch wäre ja stark, aber der Geist ist schwach und so rutscht der Schladminger über die Schultern zu Boden und ich beginne die Kostbarkeit zu entpacken. Zuerst habe ich nur vor das Büchlein zu fotografieren, aber dann beginnen meine Finger den wunderbaren Ledereinband zu berühren, zu liebkosen und dann ziehen mich die dicken, rauen, unbeschnittenen Büttenseiten in ihren Bann.
PIPE AND POUCH – The Smoker’s own Book of Poetry
Herausgegeben von Joseph Knight
Im Haus ist es still, die Morgensonne scheint zum Fenster herein; ich blättere in diesem Lyrik-Bändchen und erinnere mich an den Rest Penzance im Döschen. Die Kunst wird warten müssen, dass eine „Dunhill Dress“ eigentlich eine Abendpfeife ist, ist mir auch herzlich egal: sie liegt gerade herum.
Das Vorwort ist auf den July, 1894 datiert. Es ist genau 100 Jahre älter, als mein Erstgeborener. 120 Jahre hat es auf dem kleinen Rücken, man sieht ihm das Alter nicht an, einzig das Lesebändchen hat merklich gelitten. Genauer ausgedrückt, sieht man keine Spuren des Alters, sondern nur eine Qualität, die eindeutig auf sein Alter hinweist. kaum ein modernes Buch ist noch so liebevoll gestaltet und handwerklich so kunstfertig gebunden.
Während der sanfte Rauch des Latakia meine Zunge umschmeichelt, lese ich das gleichnamige Gedicht des amerikanischen Poeten Thomas Bailey Aldrich. Lese von Sehnsucht nach den Gerüchen und Geräuschen des Orients, die der Autor bei jedem Zug aus seiner Pfeife empfindet. Elf Jahre nach der ersten Fahrt des Orient Expresses, zwei Jahre nach dem Erscheinen von Karl Mays Orient-Zyklus, ist im Westen die Sehnsucht nach der fernen Kultur auf dem Höhepunkt. Der rauchige syrische Tabak versetzt ihn vom wärmenden Kamin seiner winterlichen Heimat in exotische Gefilde, die für seine Landsleute heute nur noch Ölkrise, Schrecken, Drohnenkrieg und Terror bedeuten.
Ich glaube weder Aldrich, noch ich, geschweige denn Kara Ben Nemsi haben je diese Ecke der Welt besucht und meine Sehnsucht hält sich in sehr engen Grenzen. Seit sie den Orientexpress durch Billigflieger ersetzt haben und doch nicht ersetzen konnten, ist auch das Märchenhafte aus diesen Ländern verschwunden. Wenig romantisch stelle ich mir den Besuch eines ISIS-Camps in der syrischen Stadt Latakia vor. Nichts mehr für uns Träumer, nur noch für die verblendeten Reisenden, welche die Sehnsucht nach Macht und die Vergeltung für eine lebenslange Ausgrenzung antreibt.
Ja, der Autor dieser Zeilen ist sich der unerträglichen Vereinfachung dieses Themas und der Aneinanderreihung der Klischees bewusst. Erinnern wir uns, ich sitze immer noch in der Wintersonne, eine Pfeife im Mundwinkel und ich schmökere in einem uralten Büchlein mit Gedichten über Pfeifen und Tabak und sollte längst bei der Arbeit sein.
Die Dunhill, die ich gerade rauche, ist fünf Jahre älter als ich selbst. Ein Autor, von dem nur das Kürzel. W.H.B. überliefert ist, sinniert über all die Erlebnisse der Pfeifen, über all die Raucher, denen sie schon gehört haben. Er stellt sich zum Beispiel vor, sie wäre Zeuge gewesen, als Shakespeare über den „eifersüchtigen Mohr“ berichtet hat und endet damit:
For this: Some links we forge are never broken;
Some feelings claim exemption from decay;
And Love, of which this pipe ist but the token,
Shall last, though pipes and smokers pass away.
Ich selbst hülle mich wieder in meinen schweren Lodenrock und radle an der trägen kalten Amper entlang ins Atelier. Wenigstens eine kleine Geschichte, die ich Ihnen, geneigter Leser, erzählen konnte, kam heraus an diesem Morgen.